11.03.2022 07:12

Nicht nur „Carmen“: Das neue Editionsprojekt „Bizets andere Opern“

Bei Fishergate Music erscheinen nach und nach Hugh Macdonalds Editionen von Georges Bizets weniger bekannten Opern „Djamileh“, „Don Procopio“, „La Jolie Fille de Perth“, „La Maison du Docteur und Le Docteur Miracle“, „Iwan IV“. Das Aufführungsmaterial ist über Bärenreiter · Alkor zu beziehen.

Zwar sind „Carmen“ und „Les Pêcheurs de perles“ in den Opernhäusern der Welt zu Hause, doch wurden die anderen Bühnenwerke Bizets  nach seinem frühen Tod im Jahre 1875 nur in stark verfälschten Versionen veröffentlicht. Der Erfolg von „Carmen“ in den 1880er-Jahren hatte den Verleger Choudens dazu ermutigt, weitere Werke Bizets herauszubringen, doch geschah dies in bearbeiteten Fassungen, die nicht mehr der Kontrolle des Komponisten unterlagen. Von „Les Pêcheurs de perles“ beispielsweise existieren Partituren mit verschiedenen Schlüssen, aber nur einer davon stammt von Bizet. Die vieraktige Oper „La Jolie Fille de Perth“ erschien sogar in mehreren Versionen, von denen keine dem Original Bizets entsprach. Selbst „Carmen“ war bis in die 1950er-Jahre hinein nur in nicht authentischen Bearbeitungen bekannt; die italienische Opera buffa „Don Procopio“ wurde erst 1906 veröffentlicht, mit zahlreichen Ergänzungen und Überarbeitungen von anderer Hand. Und die Grand Opéra „Iwan IV.“ von 1865 wurde sogar erst 1951 publiziert, und dann auch nur in einer Fassung, in der fast alle Nummern überarbeitet oder verändert worden waren. 
Die Neuausgaben bei Fishergate Music sollen diesen Umstand korrigieren und legen endlich authentische Ausgaben der Musik eines der bedeutendsten französischen Komponisten mit vollständigen kritischen Kommentaren inklusive alternativer (originaler) Versionen und wichtiger Textvarianten vor.
Bizet plante und skizzierte eine Reihe von Opern, die unvollendet blieben (bzw. die er nur zu komponieren begann). „Les Pêcheurs de perles“ wie auch „Carmen“ liegen heute in verschiedenen Ausgaben vor, doch die anderen der aufführbaren Opern hatten nicht dieses Glück. „Bizet’s Other Operas“ widmet sich daher den folgenden fünf Werken:

1. Djamileh
2. Don Procopio
3a–b. La Jolie Fille de Perth
4. La Maison du Docteur und Le Docteur Miracle
5a–b. Iwan IV

2020 erschien „Djamileh“, 2021 „Don Procopio“. „La Jolie Fille de Perth“ ist für 2022 angekündigt, 2024 soll die Reihe abgeschlossen sein. Die Neuausgabe von „Djamileh“ brachte das Centre de musique romantique française Palazzetto Bru Zane anlässlich einer Wiederaufnahme der Oper in Tours im Jahr 2021 zur Aufführung, die 2022 auch in Tourcoing und 2023 in Toulon zu sehen sein wird.
Die Partituren von Fishergate Music folgen einem speziellen Konzept, sind sie doch so benutzerfreundlich angelegt, dass sie von Dirigenten und anderen Benutzern leichter „gehört“ werden können, indem die Musik klingend notiert ist. Die transponierenden Blasinstrumente sind in C gesetzt. Da Bizet Hörner und Trompeten (bzw. Cornets) in einer verwirrenden Vielfalt verschiedener Tonarten einsetzte und vor allem die Hornbögen häufig zu wechseln sind, ist dies besonders hilfreich. Es gibt Passagen, in denen die Klarinetten, die beiden Hörnerpaare und die Cornets in verschiedenen Tonarten stehen. Eine traditionelle Partitur, die diese Instrumente in ihren notierten Tonhöhen wiedergibt, zeigt die Notation, wie sie der Komponist niedergelegt hat. Die Stimmen enthalten natürlich die Transponierungen.
Ein weiteres Merkmal der Fishergate-Partituren sind die vollen Akkoladen. Viele Orchesterpartituren führen diese „lebendig“, d. h. nur diejenigen Notensysteme, in denen das Instrument geführt ist, werden gedruckt und diejenigen Notenzeilen, in denen das Instrument pausiert, entfallen in der Regel. Dies kann bei der Lektüre teilweise verwirrend sein. Die Fishergate-Ausgaben geben immer die vollständige Holz-, Blechbläser- und Streicherfamilie an, damit der Nutzer genau orientiert ist, welche Instrumente gerade beteiligt sind. 


Djamileh. Opéra-comique in einem Akt

Die einaktige Opéra-comique „Djamileh“, uraufgeführt im Mai 1872 an der Opéra-Comique in Paris war von diesem Theater als Entschädigung für die schon halb getätigte Zusage, eine der beiden 1870 von Bizet begonnenen Opern „Clarissa Harlowe“ oder „Grisélidis“ aufzuführen, in Auftrag gegeben worden. Doch in diesem Jahr zwang die preußische Belagerung von Paris Bizet in eine Militäruniform, und nach Ende des Krieges konnte die Opéra-Comique nur kürzere Werke aufführen. Im Sommer 1872 dann waren drei neue Einakter fertig: „La Princesse jaune“ von Camille Saint-Saëns, „Le Passant“ von Émile Paladilhe – und Bizets „Djamileh“. 
Das Libretto stammt von Louis Gallet, der in seinen Memoiren „Notes d'un librettiste“ die Zusammenarbeit mit Bizet beschreibt. Gallet erinnerte sich an die Fahrt mit dem Zug durch die vom Krieg gezeichneten Vororte nach Le Vésinet am Rande von Paris. Der bärtige Bizet, in einer übergroßen Jacke, mit Strohhut und Pfeife-rauchend, holte ihn am Bahnhof ab, und sie verbrachten den Tag mit Gesprächen und Arbeit, wobei Bizet sich nie an den Tisch setzte, sondern im Garten (wo sein Vater in den Blumenbeeten herumstiefelte) oder in seinem Arbeitszimmer auf und ab ging. Abends fuhren Bizet und seine junge Frau (die Tochter seines Kompositionslehrers Halévy) Gallet zur Fähre zurück, wobei sie sich famos unterhielten und Witze machten. Und innerhalb nur weniger Wochen war „Djamileh“, das auf einer Geschichte in Alfred de Mussets Verserzählung „Namouna“ von 1832 basiert, fertiggestellt.
Nach der Uraufführung am 22. Mai 1872 folgten zehn weitere Aufführungen. Das nächste Mal war „Djamileh“ 1889 in Stockholm zu hören, und in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wurde es geradezu populär. Im Jahr 1898 dirigierte Mahler das Werk in Wien. 
Djamileh enthält drei große Sängerpartien, einen Sprecher und einen Tänzer. Schauplatz der Oper ist Harouns (Tenor) Palast in Kairo. Sein Verwalter Splendiano (Tenor) hat die Aufgabe, einen Ersatz für Djamileh (Sopran), Harouns Sklavin, zu finden, der als Konkubine nur ein Monat zugestanden worden war. Splendiano sieht darin eine Gelegenheit, sie für sich zu gewinnen; doch es geht um die wahre Liebe – und Djamileh ist in Haroun verliebt. Sie überzeugt Haroun davon, sie anzunehmen, indem sie eine Tänzerin verkörpert, deren exotische Bewegungen einst seine Bewunderung erregt hatten. 
Die Geschichte bietet Bizet Gelegenheit zu einer faszinierenden exotischen Musik, insbesondere im Solo „Ghazel“, das Djamileh singt, und im „Tanz der Almée“, an dem auch der Chor beteiligt ist. Auch andere Nummern zeigen den Komponisten bereits auf der Höhe seines Könnens wie bei den Jeux d'enfants für Klavierduett, der Bühnenmusik zu „L'Arlésienne“ und „Carmen“, mit denen er erst später reüssieren sollte. Das abschließende Duett für Haroun und Djamileh ist eine seiner schönsten Kompositionen.
Wir sind der damaligen Leitung der Opéra-Comique zu Dank verpflichtet, dass sie, über „Djamileh“ hinausblickend, Bizet sofort mit einem abendfüllenden Werk für ihr vornehmes Publikum beauftragte. Das Resultat war „Carmen“.


Don Procopio. Italienische Opera buffa in zwei Akten

Bizet komponierte „Don Procopio“ 1858/59 in Rom, wo er lebte, nachdem er den Prix de Rome gewonnen hatte. Er war zwanzig Jahre alt und hatte zwei Jahre zuvor die bemerkenswerte „Symphonie en Ut“ (in C) komponiert. Der Académie des Beaux-Arts in Paris musste er nun, als Nachweis dafür, dass er im Rahmen seines Stipendiums arbeitete, ein großes Werk vorlegen. Als großer Bewunderer von Mozart und Rossini entschloss er sich, eine italienische Oper zu schreiben und suchte nach einem Libretto, das er vertonen konnte. Seine erste Wahl war Parisina (das bereits 1833 von Donizetti vertont worden war), doch dann entschied er sich für Don Procopio, ein Libretto von Carlo Cambiaggio, das von einer Gruppe von fünf Komponisten als Pasticcio vertont und 1844 aufgeführt worden war.
Bizet schrieb an seinen Klavierlehrer Antoine François Marmontel: „Ich komponiere gerade eine komische italienische Oper fertig. Zu italienischen Worten muss man einfach italienische Musik schreiben, und ich habe nicht etwa versucht, diesen Einfluss zu verbergen. Ich habe mich bemüht, komisch und zugleich eigen zu sein.“ Die Musik hat, besonders in den Ensembles, echt italienischen Glanz. Und das Trio für drei Bässe ist ein Meisterwerk der komischen Oper.
Die Geschichte erinnert an Donizettis „Don Pasquale“. Sie handelt von den Versuchen des Onkels und Vormunds einer jungen Dame, Don Andronico, das Mündel mit einem älteren Geizhals, Don Procopio, zu verheiraten, anstatt ihr zu erlauben, den jungen Offizier Odoardo zu heiraten, in den sie verliebt ist. Sie, Donna Bettina, erhält Unterstützung von ihrem Bruder Don Ernesto und ihrer Tante Eufemia, und es gelingt ihnen schließlich, Don Procopio davon zu überzeugen, dass Bettina eine extravagante Genießerin von Luxus ist.  
Vorgesehen sind sechs Solisten und gemischter Chor. Die Hauptpartie der Sopranistin ist voll herrlicher Koloraturen, und der Tenor erhält eines der schönsten Soli von Bizet überhaupt, die Serenata, die Bizet in „La Jolie Fille de Perth“ wiederverwendete. Begleitet wird dieses Solo von einer Gitarre, einer Mandoline und einem Paar „Voci umane“- eine unübliche Bezeichnung für Englischhorn. Auch ein Refrain aus dem Finale des ersten Aktes wurde in „La Jolie Fille de Perth“ wiederverwendet, und eine weitere Melodie fand ihren Weg in „Les Pêcheurs de perles“.
Bizet komponierte die Oper, um den Verpflichtungen seiner Auszeichnung nachzukommen, und erwartete nicht, dass es zu einer Aufführung kommen würde. Erst 1894 wurde das Manuskript entdeckt und es stellte sich heraus, dass es aus lediglich zwölf Musiknummern bestand. Es enthielt weder eine Ouvertüre noch Rezitative. Für eine Aufführung auf der Bühne braucht es verbindendes Material, wie es etwa Charles Malherbe für die Uraufführung in Monte Carlo 1906 lieferte und bereits 1905 veröffentlichte. Die Neuausgabe hingegen enthält nur die originale Musik Bizets und in dieser Form ideal für konzertante Aufführungen und Aufnahmen geeignet.

Hugh Macdonald
(Übersetzung: Annette Thein)


Der Herausgeber
Hugh Macdonald, renommierter Editionsleiter der „New Berlioz Edition“, die zwischen 1969 und 2006 im Bärenreiter-Verlag erschien und innerhalb derer er „Les Troyens“, „Benvenuto Cellini“ und „Béatrice et Bénédict“ herausgab. Für die ebenfalls bei Bärenreiter erschienenen französischen Opern edierte er wiederum drei Opern: Édouard Lalos „Fiesque“, Emmanuel Chabriers „L'Étoile“. und Ambroise Thomas‘ „Hamlet“. Außerdem gab er Bände innerhalb der Werkausgaben von Gabriel Fauré und Camille Saint-Saëns sowie eine kritische Neuausgabe von Smetanas „Má Vlast“ („Mein Heimatland“, Bärenreiter Praha) heraus. 

Abbildung
Karikatur von Georges Bizet aus der Zeitschrift “Diogène” (1863)