Wahrheit und Lüge. Uraufführung von Miroslav Srnka
Die Klarinette als Vertreterin der menschlichen Stimme, Chor und Symphonieorchester als Resonanzräume: Mit diesen Mitteln geht Miroslav Srnka auf die Suche nach der Wahrheit in unserer digitalen Welt.
In „Speed of Truth“, seiner neuen Komposition für den Klarinettisten Jörg Widmann, den Chor und das Symphonieorchester des BR und die Dirigentin Susanna Mälkki trifft eine sehr individuelle Besetzung aufeinander und eine besondere Musikerkonstellation. In der neueren Musik wird die Klarinette mit den vielfältigsten Spieltechniken zu einem der farbigsten, überraschendsten Klanggeber überhaupt. Der Klarinettist und Komponist Jörg Widmann ist für Miroslav Srnka ein besonders inspirierender Solist seines neuen Werkes.
Heißt Komponieren auch Entwickeln von neuen Methoden?
Miroslav Srnka: Auf jeden Fall, da die Arbeitsweise immer das Ergebnis mitträgt. Für jedes Stück muss ich die Methode neu entwickeln. Das macht es sehr langsam. Aber wenn ich denselben Weg nochmals ginge, wäre das Ergebnis verkrustet. Man würde das gleich spüren.
In den Texten der neuen Komposition geht es um Wahrheit. In welcher Form?
Ich wollte recherchieren, was Wahrheit im digitalen Raum heißen kann. Im Internet kursieren Massen von geteilten Zitaten und Aphorismen über Wahrheit, von Aristoteles bis heute. Immer wird darin ein Aspekt beleuchtet. Es gibt manchmal sogar gegenteilige Zitate, trotzdem beleuchten beide etwas. Zugleich werden solche Zitate oft wichtigen historischen Figuren zugeschrieben, um vertrauenswürdig zu scheinen. Und dann gibt es Websites, die wiederum analysieren, von wem die Zitate wirklich stammen. Schon die ersten digitalen Quellen der „Wahrheiten über Wahrheit“ sind von Unwahrheiten geprägt. Es geht um Vertrauen zwischen Musikern untereinander und zwischen dem Podium und Zuschauerraum besteht auch eine Art von Vertrauen. Auf einem solchen „Vertrag“ basiert die ganze Geschichte der Textvertonungen. Diese zu relativieren, ist meine Prämisse für diese Arbeit.
Gibt es überhaupt Wahrheit?
Gäbe es darauf eine einfache Antwort, wären wir in der heutigen Welt nicht in einer solchen Misere. Oft höre ich: „Wir müssen die Wahrheit wiederherstellen.“ Aber das ist doch niemals möglich. Wir müssen ganz neue Begriffe und Verständnisräume entwickeln.
Was bedeutet das Arbeiten für Chor?
Der Chor steht zwischen Musik und Semantik. Es gibt psychologische Tricks, die unser Vertrauen in das zerstören können, was Semantik und was Musik ist. Wenn man das Wort „Wahrheit“ oft genug schnell nacheinander wiederholt, verliert man das Vertrauen in das Wort. Oder wenn man einen kurzen Text oft genug exakt wiederholt, wird er in unserem Verständnis zu Musik. Das nennt man den „Speech-to-song“-Effekt. Das Mittel von Propaganda – also uns für eine „Wahrheit“ zu gewinnen – ist auch stetige Wiederholung: die fortwährende Behauptung, dass etwas wahr sei.
Wie arbeitest Du mit Jörg Widmann zusammen?
In der Vorbereitung haben wir uns mehrfach getroffen. Es war immer für uns beide spannend. Wenn Jörg, der Komponist, einiges über sein Instrument erklärt, schafft er es in zwei Sätzen zu zeigen, was ganze Bücher sonst nicht schaffen. Es ist das wahre Glück eines kompositorischen „Nerds“, am Schreibtisch einen Klang für ein Instrument, das ich selbst nicht spiele, „theoretisch“ auszudenken, der mit dem Solisten dann tatsächlich funktioniert.
In den letzten Stücken hast du mit neuartigen Formen von Notation gearbeitet, die dem Interpreten einen größeren Spielraum lassen. Ist dies auch hier der fall?
Bei diesem Stück frage ich mich immer wieder: Wie schaffe ich eine einheitliche Notation, so dass sie die fast unnotierbaren, lang geprobten Klänge der Soloklarinette beinhaltet, zugleich aber den Orchesterklarinettisten schnell und instinktiv verständlich ist? Wie notiere ich für den Chor die Konsonanten in dem Übergang zwischen beatboxähnlichen perkussiven Lauten, Sprechstimme und gestützt Gesungenem.
Und dennoch bleibt die Notation nur die Oberfläche. Die Substanz eines Stückes kann nie notiert werden. Diese fast absolute Sicherheit, beim Notieren scheitern zu müssen, macht die Suche so spannend und so endlos.