Wie Drachen zu besiegen sind
Fünfzig Jahre nach der Uraufführung gelangt Paul Dessaus Oper „Lanzelot“ in der ursprünglichen Fassung wieder auf die Bühne. Die Theater in Weimar und Erfurt nehmen sich ihrer an.
Nachdem Paul Dessau für seine ersten beiden Musiktheaterwerke Die Verurteilung des Lukullus (1951) und Puntila (1966) auf Vorlagen von Bertolt Brecht zurückgreifen konnte, wählte er für seine dritte, im Dezember 1969 an der Deutschen Staatsoper Berlin uraufgeführte Oper Lanzelot ein Märchenstück des russischen Dramatikers Jewgeni Schwarz. Die Parabel Der Drache wurde 1943 vor dem Hintergrund des Naziterrors geschrieben und war wegen der allzu deutlichen Kritik am totalitären Regime Stalins in der Sowjetunion zunächst 17 Jahre lang verboten. 1965 brachte Benno Besson das Stück über den Drachentöter in einer legendären Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin heraus. Dessau entdeckte darin eine operntaugliche Vorlage mit den für ihn so wichtigen gesellschaftspolitischen Bezügen: Ein freier „Held“ möchte die Drachenstadt von seinem inhumanen, Angst und Schrecken verbreitenden Usurpator befreien, doch er stößt auf Desinteresse bei den Stadtoberen und der Bevölkerung, die sich „fressend, verdauend, fernsehend“ mit den bestehenden Verhältnissen arrangiert hat. Die Gleichgültigkeit schlägt in Feindseligkeit um, als Lanzelot den Drachen besiegt. Die offene Diktatur des Drachen wird umgemünzt in eine verdeckte Ausbeutung der Bevölkerung, in eine Herrschaft weniger über viele. Für die Liebe Elsas kehrt Lanzelot noch einmal zurück und vollendet sein Werk der Befreiung.
Als Librettist wählte sich Paul Dessau (nicht ohne politische Brisanz) den befreundeten Dramatiker Heiner Müller, der wegen allzu großer Kritik am sozialistischen System seit 1961 aus dem Deutschen Schriftstellerverband ausgeschlossen war und dessen Werke nicht mehr auf DDR-Bühnen gespielt werden durften. Zu der vielschichtigen textlichen Vorlage Müllers schuf Dessau eine ebenso vielfältige Musik: In ihren Grundzügen ist sie dodekaphon gearbeitet, der Drache wird mit bruitistischen Klängen des überbordenden Schlagapparats charakterisiert, daneben gibt es lyrische und karikaturistische Momente, eine Barockmusikparodie, Beat-Klänge, Mozart-Allusionen, Chopin-, Rossini-, Wagner- und nicht zuletzt Eigenzitate von Dessau. Das Finale erinnert in seiner dramaturgischen Anlage an Mozarts Zauberflöte: Letzter verzweifelter Vorstoß der Bösewichter, die Vernichtung des Bösen, glanzvoller, hymnischer Schlussgesang der Befreiten „Der Rest ist Freude. Freude der Rest“. Dem Finale ist in der ursprünglichen Fassung ein Epilog angefügt. In einem großen Diminuendo entfernen sich die Menschen von der Bühne, bis ein kleinen Kind übrig bleibt, das noch einmal die Schlussworte wiederholt, die „Freude“ aber gleichsam in Frage stellt. Nach der Uraufführung entzündete sich Kritik an diesem reduzierten, an Alban Bergs Wozzeck erinnernden Schluss. Dessau selbst scheint mit dieser dramaturgischen Lösung auch nicht zufrieden gewesen zu sein. Für die folgenden Produktionen – in München (April 1971) und Dresden (1971/72) – schrieb er wenige Wochen nach den Berliner Aufführungen die letzten Takte neu, so dass Lanzelot mit einem großen Chor- und Ensemblegesang optimistisch endet.
Die Gattung der Oper war für Paul Dessau das „ausdrucksstärkste Genre, um die großen gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit künstlerisch zu beleuchten“. Es spricht für Lanzelot, dass auch nach 50 Jahren die darin thematisierten Probleme und die enthaltene Gesellschaftskritik kaum an Aktualität verloren haben, denn Drachen gibt es auch heute und wird es immer wieder geben.
Robert Krampe
(aus [t]akte 2/2019)
Paul Dessau im Dezember 1974 bei einem Solidaritätskonzert vor seinem 80. Geburtstag zusammen mit Ruth Berghaus und Werner Rackwitz (Stellvertreter des Ministers für Kultur der DDR) (Foto: Katcherowski)