Thomas Röder: Zur Neuausgabe der ersten Symphonie von Anton Bruckner
Die Erste Symphonie wurde zu Bruckners Lebzeiten zweimal uraufgeführt: das erste Mal am 9. Mai 1868, gut zwei Jahre nach Abschluss der Komposition. Die zweite Aufführung am 13. Dezember 1891 in Wien darf durchaus als zweite Première betrachtet werden, denn nicht nur das Werk selbst, sondern auch seine Voraussetzungen, sein Kontext haben sich in jeder Hinsicht geändert. Für eine Werkausgabe erscheint es sinnvoll, diese beiden Aufführungen als Instanzen der Werkverkörperung zu betrachten und eine Ausgabe nach ihnen auszurichten. Das bedeutet, dass im Rahmen einer solchen Ausgabe zwei gesonderte Notentexte vorzulegen sind.
Indessen ist der unveränderte Text der ersten Aufführung aus Bruckners Hand nicht mehr erhalten. Seine eigene Partitur wurde, vor allem im ersten und letzten Satz, über die Jahre hin an zahlreichen Einzelstellen abgeändert. Vor allem im Lauf der 1880er-Jahre zeugen punktuelle Eingriffe von einem neu erwachten Interesse an dem Werk. Eine Zeitlang noch versuchte Bruckner, die Änderungen in seiner Kompositionspartitur mit der frühen Abschrift von der Hand seines Linzer Hauptkopisten, des Hornisten Franz Schimatschek, abzugleichen. Schließlich entschloss sich der Komponist zur Anfertigung einer neuen Partitur: Für ihn gab es nun mehr nur eine ‚Wiener’ Erste Symphonie.
Wenn es das Ziel ist, einen Text der Ersten Symphonie Bruckners zu bieten, der es ermöglicht, jenes bedeutsame Ereignis der ersten Aufführung einer Bruckner-Sinfonie darzustellen, so sind freilich die in Linz 1868 verwendeten Orchesterstimmen die erste Wahl. Das Stimmenmaterial bietet weitgehend den Text der Uraufführung, zusammen mit der gleichsam ‚authentischen’ (wenn auch nicht erschöpfenden) direkten Korrektur durch die damaligen Orchestermusiker. Das Textproblem der ‚Linzer Fassung’ der Ersten Sinfonie wäre auf einfache Weise gelöst.
Nun sind Orchesterstimmen Notentexte, die von einer sinn- und zusammenhangstiftenden Partitur abhängen. Der Hersteller einer Einzelstimme steht nicht nur vor der Aufgabe, leserlich und fehlerfrei zu schreiben und dazu auf günstige Wendestellen und praktikable Stichnoten zu achten, sondern ist auch hin und wieder dazu gezwungen, seinen Vorlagetext zu interpretieren. Auch wenn Bruckners Partitur als typische ‚Musikbaustelle’ anzusehen ist, so war es doch fast immer möglich, durch Vergleich der Stimmen mit dem Autograph den authentischen Notentext auch in Zweifelsfällen herzustellen.
Denn Bruckners Kopist Franz Schimatschek schrieb zwei Monate nach den Orchesterstimmen eine auf den 26. Juli 1866 datierte Partiturkopie. Das Ensemble von Stimmen, Kompositionspartitur und Partiturkopie bildet einen Zusammenhang mit gegenseitigen Verweisen, aber deutlicher Abhängigkeit von Bruckners Autograph. Durch ihre Zweckbestimmung, als Instanz einer Aufführung, sondern sich die Stimmen von den beiden Textzeugen ab; sie blieben überdies Jahrzehnte unberührt.
Der Notentext der Neuausgabe der Ersten Sinfonie wurde zunächst anhand der Orchesterstimmen erstellt. Bei der Redaktion, der Hinzufügung von Informationen aus den beiden erwähnten Partituren wurde, vorsichtig verfahren, da deren Korrekturen und Ergänzungen aus späterer Zeit stammen konnten. So ist etwa die Bogensetzung an manchen Stellen so inkonsistent überliefert, dass Ergänzungen nur aus dem Befund der Orchesterstimmen herausgetätigt wurden. Einer Tendenz zur ‚Legatoisierung’, der Hinzufügung von Legatobögen, die ausschließlich aus den Partituren oder gar überhaupt nicht belegt sind, wurde, so gut es ging, widerstanden. Auch wurde dem Prinzip der Angleichung von Parallelstellen nicht entsprochen. Hiermit erklärt sich zum Beispiel die für Exposition und Reprise differierende Artikulation beim Vortrag des zweiten Themas im ersten Satz. Unerheblich bleibt die Frage nach einem möglichen Sinn solcher Differenzen, ebenso wie nach dem Sinn einer Übereinstimmung, vor allem im Hinblick auf einen so langen und ereignisreichen Einzelsatz.
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